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  • Arianna Bisaz

Rhizophagie: Wie Pflanzen mit ihren Wurzeln Mikroben fressen

Aktualisiert: 10. Dez. 2022

Die vorherrschende Auffassung der Pflanzenernährung seit der grünen Revolution ist, dass Pflanzen nur anorganische Nährstoffe, das heisst im Bodenwasser lösliche Ionen wie Nitrate oder Phosphate, über ihre Wurzeln aufnehmen. In den letzten Jahren hat die Forschung jedoch den konkreten Nachweis erbringen können, dass Pflanzen organische Nährstoffe bzw. ganze Moleküle direkt verwerten.


Ist das Zeitalter der anorganischen Nährlösung, welches der agrochemischen Industrie riesige Umsätze bescherte, somit schon bald vorbei? James White, Professor für Pflanzenbiologie und -pathologie an der Rutgers University in New Brunswick (USA), trug einen grossen Teil zur Erforschung dessen bei, was heute als Rhizophagie-Zyklus bekannt ist.


James White, Rutgers University

Der Begriff Rhizophagie stammt aus dem Griechischen und bedeutet «fressende Wurzel». Gemäss White «verschlucken» die Pflanzen mit ihren Wurzeln nämlich ganze Bakterien.

Wie funktioniert denn Rhizophagie? Und was bedeutet dieses Phänomen für die landwirtschaftliche Praxis?


Wurzeln schlucken Mikroben und spucken sie wieder raus


Der Abbau symbiotischer Mikroben in den Wurzelzellen, der sogenannte Rhizophagie-Zyklus (auch Rhizophagie-Symbiose genannt), ist ein wiederkehrender Prozess, bei dem Pflanzen Nährstoffe von symbiotischen, also nicht krankmachenden Bakterien und Pilzen erhalten. Diese Mikroben werden Endophyten (griechisch für «im Innern der Pflanzen sich befindend») genannt.


Konkret funktioniert der Rhizophagie-Zyklus folgendermassen: Zunächst wachsen die endophytischen Bakterien auf der Pflanzenwurzel in einer Zone ausserhalb des Wurzelspitzenmeristems. Das ist die Zone, wo die Zellteilung, d.h. das Wurzelwachstum stattfindet. In dieser Zone sondert die Pflanze Kohlenhydrate und anderes Futtermittel über ihre Wurzeln ab, um die endophytischen Bakterien zu «züchten».


Die Bakterien nehmen nebst der von der Pflanze gespendeten Nahrung auch verschiedene Nährstoffe aus dem Boden auf. Indem die Bakterien zu einem bestimmten Zeitpunkt in die Zellen des Wurzelspitzenmeristems eindringen, transportieren sie diese Nährstoffe in die Pflanzen hinein. Die Endophythen siedeln sich sodann in den sogenannten periplasmatischen Räumen der Wurzelzellen, also zwischen der Zellwand und der Plasmamembran, an. Dort verlieren sie ihre Zellwände und werden oxidativ zersetzt, wodurch ihnen die Nährstoffe entzogen werden. Wie dieser Nährstoffentzug im Detail funktioniert, ist noch Gegenstand der Forschung.


Doch nicht alle Endophyten werden komplett zersetzt: Die überlebenden Mikroben sondern das Pflanzenhormon Ethylen aus. Sie lösen damit ein Wachstum der Wurzelhaare aus und treten sodann an den Spitzen dieser Wurzelhaare wieder aus. Die endophytischen Mikroben gelangen also wieder in den Boden, erneuern dort ihre Zellwand und der Kreislauf beginnt von vorne. Das Schema unten veranschaulicht diesen Zyklus.


Schematische Darstellung des Rhizophagie-Zyklus

Die Mikroben des Rhizophagie-Zyklus wechseln zwischen einer intrazellulären endophytischen Phase und einer freilebenden Bodenphase: Mikroben dringen in die Wurzelzellen am wachsenden Wurzelspitzenmeristem ein und verlassen die Wurzelzellen an den Spitzen der sich ausdehnenden Wurzelhaare wieder. Die Bodennährstoffe werden in der freilebenden Bodenphase erworben und in der intrazellulären endophytischen Phase oxidativ extrahiert (1A). 1B zeigt Bakterien im periplasmatischen Raum zwischen Zellwand und Zellmembran in der Nähe des Wurzelspitzenmeristems (wo die Zellteilung, d.h. das Wurzelwachstum stattfindet) eines Agave-Setzlings. 1C zeigt Bakterien, die aus der Wurzelhaarspitze eines Graskeimlings austreten. Quelle: White et al. (2019)



Endophyten unterstützen die Pflanzen in vielerlei Hinsicht


Endophyten sind der Pflanze angeboren und werden über die Samen von einer Pflanzengeneration auf die nächste übertragen. Endophyten kommen bei allen Pflanzen vor und leben in einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung mit ihr: Sie unterstützen ihr Gedeihen und erhalten im Gegenzug Nahrung und Energie über die Wurzelausscheidungen ihrer Wirtspflanze. Gemäss J. White erbringen endophytische Mikroben eine breite Palette an Leistungen:


  • Sie verbessern die oxidative Stresstoleranz ihrer Wirtspflanze, z.B. bei Wasser- und Hitzestress sowie bei klimatischem Stress, indem sie Ethylen ausscheiden.

  • Sie versorgen ihre Wirtspflanze mit Nährstoffen, z.B. Stickstoff und Spurenelementen.

  • Sie fördern das Wachstum ihrer Wirtspflanze. Wenn sie hingegen durch Menschenhand in «fremden» Pflanzen eingeführt werden, können sie das Wachstum dieser anderen Pflanze unterdrücken oder zum Absterben des fremden Sämlings führen.

  • Sie schützen die Wirtspflanzen vor Pflanzenfressern, indem sie Stoffe wie z.B. Alkaloide entwickeln lassen, die Insekten fernhalten.

  • Sie unterdrücken krankmachende Pilze, indem sie diese kolonisieren, schwächen und je nach Fall sogar zu Endophyten umfunktionieren.

  • Und sie fördern die Wurzelentwicklung ihrer Wirtspflanze.

Kurz zusammengefasst: Endophyten sind mächtige natürliche Player, die den Stoffwechsel bzw. die chemische Zusammensetzung der Wirtspflanze modifizieren und auf krankmachende Keime einwirken.


Multifunktionelle Zusammenarbeit von Wurzeln und Mikroben


Eine Pflanze mit guter Wurzelbildung und vielen Wurzelspitzen kann mehr Nährstoffe aus dem Rhizophagie-Zyklus gewinnen, da sie wie erwähnt mit ihren Wurzelspitzenmeristemen Mikroorganismen "frisst" und diese "verdaut". In einem Experiment mit Gräsern haben Endophyten der Pflanze gut 30% des Stickstoffverbrauchs zugeführt!


Spannend ist auch, dass die Endophyten, wie ebenfalls schon erwähnt, Ethylen ausscheiden. Diese stimuliert einerseits das Wachstum von Wurzelhaaren und lässt andererseits die Wurzelzellen Superoxid, also reaktiven Sauerstoff (O2), ausscheiden. Dieses Superoxid verbindet sich schliesslich mit Stickstoffmonoxid, das bei diesem Prozess ebenfalls ausfällt, und zwar zu Nitrat (NO3). Gemeinsam produzieren also die Wurzelzellen und Endophyten Nahrung für die Pflanze.


Ein weiteres interessantes Detail bei diesem ganzen Mechanismus ist, dass Ethylen auch ein Stresshormon ist. Es erhöht die Widerstandfähigkeit der Pflanzen gegen oxidativen Stress wie Hitze, Bodensalz, Schwermetalle und möglicherweise durch den Klimawandel verursachten Stress (zum Thema oxidativer Stress vgl. auch den Beitrag "Starke Kulturen dank Redox-Steuerung").


Eine Bakterienwolke um das Wurzelspitzenmeristem, wo die intrazelluläre Besiedlung stattfindet. Quelle: White (Presentation, 2021)


Fehlt der Rhizophagie-Zyklus, ist die Nährstoffaufnahme reduziert


Der Rhizophagie-Zyklus unterstützt die Pflanzengesundheit also massiv. Durch ihn sind die Pflanzen widerstandsfähiger und stresstoleranter. Fehlt er, sind die Pflanzen schlechter entwickelt und anfälliger für Krankheiten und Stress.


Die Rhizophagie-Zyklus-Mikroben beeinflussen das gute Gedeihen des Keimlings stark: Experimente haben gezeigt, dass sie nicht nur die Verlängerung der Wurzelhaare auslösen, sondern sie sind auch der Grund dafür, dass die Wurzeln nach unten wachsen (gravitropische Reaktion), die Verzweigung der Wurzeln verstärkt und die Streckung von Wurzeln und Sprossen erhöht wird. Keimlinge ohne Endophyten bilden weniger bis keine Haarwurzeln und die Sprossen weisen abnormales Wachstum auf.


In diversen Experimenten führte die künstliche Unterdrückung des Rhizophagie-Zyklus bei Keimlingen zu einer verminderten Aufnahme von z.B. Phosphor, Kalium, Kalzium, Schwefel, Mangan und Magnesium. Da Mikroben über ausgeklügelte Mechanismen verfügen, um sich Mikronährstoffe effizient anzueignen; sie sich relativ gewandt im Boden bewegen, um an Nährstoffe ranzukommen; und Metalle aufgrund von Ladungsdifferenzen an den Zellwänden der endophytischen Bakterien haften, vermutet man zudem, dass der Rhizophagiezyklus eine Schlüsselrolle bei der Aufnahme von schwer zugänglichen Mikronährstoffen wie Eisen, Kupfer und Zink spielen könnte.


Die braunen Punkte in den Haarwurzeln eines Hundszahngras-Setzlings sind endophytische, intrazelluläre Pseudomonas-Bakterien. Quelle: White (Presentation, 2021)



Rhizophagie in der landwirtschaftlichen Praxis


Endophyten spielen eine wichtige Rolle für die Pflanze bei ihrer Anpassung an die Umwelt, bei ihrer Verteidigung gegen biotische und abiotische Stressfaktoren und bei der Bereitstellung von Nährstoffen. Während Endophyten in Pflanzen allgegenwärtig sind und der Rhizophagie-Zyklus automatisch funktioniert, fördert ein gesunder Boden mit einem lebendigen Zusammenspiel von Pflanzen, Bodenmikroben und organischem Bodenmaterial diesen Prozess eindeutig. Es gilt also – und das ist die wichtigste Botschaft - alles zu tun, damit die mikrobielle Gemeinschaft und Aktivität im Boden und auf der Pflanze bzw. dem Saatgut selbst aufgebaut, gestärkt und vermehrt wird. Sprich biologisch, regenerativ und biostimulierend wirtschaften.


Da am Rhizophagie-Zyklus viele Saatgutmikroben beteiligt sind, ist ein biodiverses, gesundes Mikrobiom auf dem Samen sehr wichtig. Stickstoffanwendungen, chemische Dünger sowie allerlei Agrochemikalien wie auch Pflanzenzüchtungsprozesse können bei Kulturpflanzenarten zu einem Verlust von nützlichen Mikroben führen. Dieser Verlust führt oft zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit der gezüchteten Sorten gegenüber Wildsorten und zu einer erhöhten Abhängigkeit von Agrochemikalien im Pflanzenbau.


Damit die nativen Mikroben auf den Samen möglichst weder zerstört noch gehemmt werden, ist es also essentiell, auf sterilisiertes oder chemisch-antimikrobiell behandeltes Saatgut sowie auf die Entfernung der obersten Schichten des Saatgutgewebes zu verzichten.

In Zukunft könnte die Möglichkeit bestehen, endophytische Mikroben aus wilden Verwandten von Nutzpflanzen zu gewinnen und diese wieder in die Kulturen einzubringen, z.B. als «endophytische» Saatgutbehandlung.


Rhyzophagie-Zyklus: Chance für die Landwirtschaft der Zukunft


Die allgemein verbreitete Annahme, dass Mikroben auf und in Pflanzen entweder pathogen oder dann unwichtig sind, hat dazu geführt, dass die Rolle und Bedeutung der endophytischen Funktionen für die Pflanzengesundheit lange nicht beachtet, geschweige denn überhaupt erforscht und verstanden wurde.


Ein vertieftes Wissen um den Rhyzophagie-Zyklus könnte unseren Umgang mit Pflanzenpathologien und der Nährstoffversorgung der Pflanzen aber radikal verändern: Könnten mit den richtigen endophytischen Bakterien Nutzpflanzen entwickelt werden, die widerstandsfähiger gegen Klimastress sind? Könnten endophytische Mikroorganismen möglicherweise zu sogenannten Bioherbiziden weiterentwickelt werden, die das Wachstum von Unkrautpflanzen bremsen? Könnte hingegen ein weiterer Anstieg des Kohlendioxidgehalts in der Atmosphäre die Effizienz des Rhizophagie-Zyklus verringern, da mehr CO2 in der Luft die Produktion von Superoxid in den Wurzeln unterdrückt und damit die Extraktion der Nährstoffe aus den Endophyten verhindert?


Bereits der heutige Forschungsstand ermöglicht uns einen etwas anderen Blick auf das, was wir dem Boden und dem Pflanzenmikrobiom mit der gängigen landwirtschaftlichen Praxis «antun». Wer weiss - der Nährstoffbedarf unserer Kulturpflanzen könnte in naher Zukunft (wieder) zu 100% durch nützliche Mikroorganismen zur Verfügung gestellt werden, und nicht – wie heute noch so oft üblich – durch einfache Ionen aus zugekauften Düngemitteln.



Quellen / Links:


Weitere Quellen:

Dr. Bargyla Rateaver: Organic Method Primer Update, San Diego, USA, 1993 (vergriffen)


Weiterbildung:

Understanding Rhizophagy by James F. White, Online-Kurs, Englisch

Einführung in die regenerative Landwirtschaft, Online-Kurs von Regenerativ Schweiz

Regenerativ-Community: Gemeinsam und interaktiv lernen




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